Würzburger Quantenphysik-Konzept

V14a Überlichtschnelles Tunneln

Geschwindigkeiten bei Wellen

Tunneleffekt

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Nachdem einige Aspekte von Geschwindigkeiten bei der Ausbreitung von Wellen größer oder kleiner als die Vakuumlichtgeschwindigkeit geklärt sind, geht es hier um die Frage, was eine Zeitdauer für das Passieren einer Potenzialschwelle, also des Tunnels, überhaupt sein könnte. Dann erst geht es um überlichtschnelles Tunneln ("superluminales Tunneln").

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(1) Wie soll man eine Tunnelzeit definieren?

(a) Klassische Vorstellung von einer Tunnelzeit

Einfach ist die Frage bei klassischen Teilchen oder bei einer klassischen Welle zu beantworten. Teilchen laufen mit einer Geschwindigkeit v gegen den Tunneleingang einer Potenzialbarriere der Breite B. Wenn sie zur Zeit t1 eintreten und zur Zeit t2 wieder austreten, dann beträgt die Tunnelzeit Δt = t2 - t1 und es gilt Δt = B/v. Bei einem klassischen Wellenpaket lässt sich Δt ebenfalls definieren als t2 - t1, wenn t1 und t2 die Zeiten sind, zu denen die Wellenfront in die Potenzialbarriere eindringt und wieder austritt. Das setzt aber eine wohldefinierte Wellenfront voraus. Es funktioniert sicher gut bei Einhüllenden des Wellenpakets, die in Ausbreitungsrichtung plötzlich abbrechen. Ein Gauss- oder ein Lorentz-Paket wären schlechte Kandidaten, weil sie sich bis zu beliebigen Zeiten erstrecken, wenn auch mit sehr geringer "Intensität". Es setzt auch voraus, dass sich das Wellenpaket während des Durchtritts nicht verformt (siehe Zuganalogon). Die Phasengeschwindigkeit spielt höchstens indirekt eine Rolle, weil eine unendlich ausgedehnte Welle zu jedem Zeitpunkt ja "schon überall ist". Das gilt strenggenommen auch für die erwähnten langreichweitigen Wellenpakete ("Omnipräsenz" langreichweitiger Wellenpakete oder Wellen).

(b) In der Quantenphysik kann es ein direktes Analogon zur Definition wie bei klassischen Teilchen nicht geben.

Quantenteilchen sind nämlich nicht lokalisiert: Quantenteilchen haben einen Ort nur dann, wenn er gemessen ist. Andernfalls ist der Ort un-be-stimmt. Wie sollte man in einem Experiment von einem bestimmten Quantenteilchen bei einer Potenzialschwelle Eintritts- und Austrittszeit feststellen? Nach der Detektion des Eintritts wäre der Zustand völlig verändert, und eine gemessene Austrittszeit hätte wenig mit der Eintrittszeit zu tun.

Wenn also Quantenphysiker von einer Tunnelzeit reden: Was auch immer sie damit meinen, um eine Zeit für das Durchtunneln durch die Potenzialbarriere im klassischen Sinn kann es sich nicht handeln.

Weil es so problematisch ist, gibt es bei unterschiedlichen Forschergruppen offenbar unterschiedliche Auffassungen einer "Tunnelzeit". Das ist bei der Interpretation von Experimenten zu berücksichtigen. Dabei sind in Erwägung zu ziehen Argumente wie pulse reshaping, avanciertes Maximum, Aufsteilen der Pulsfront, Omnipräsenz, ...

2. "Überlichtschnelles Tunneln" ?

Beispiele:

(a) Es gibt Experimente, bei denen ein Atom oder Molekül durch einen Femtosekunden-Laser (Δt ≈ 10-15 s) oder gar Attosekunden-Laser (Δt ≈ 10-18 s) angeregt wird, also quasi zu einem wohldefinierten Zeitpunkt. Ich stelle mir vor, dass im Atom oder Molekül komplizierte Umordnungsprozesse stattfinden, bis dann eine neue Situation entsteht, nämlich eine Potenzialbarriere, die durchtunnelt werden kann. Mit einem Detektor kann das Ergebnis registriert werden. Eine Tunnelzeit ist dann durch die Ereignisse Femtosekunden-Puls und Detektion nach oben begrenzt. Es wird behauptet, dass das Tunneln keine Zeit benötige (Keller 2008; im Bewusstsein der Problematik spricht sie statt von einer Tunnelzeit von einer Tunnelverzögerungszeit = "tunneling delay time").

(b) In einem ähnlichen Experiment werden zwei Laserpulse verwendet, einer (UV oder gar Attosekundenpuls im Röntgenbereich), der das Atom oder Molekül anregt ("Pumpen") und sozusagen eine Uhr startet, und ein zweiter (roter), beide jeweils mit nur einigen wenigen Feldstärkemaxima. Durch den zweiten wird in seinen Maxima der elektrischen Feldstärke für ein gebundenes Elektron das Coulombpotenzial soweit abgesenkt, dass eine Potenzialbarriere entsteht, die das Elektron durchtunneln kann. Man kann dann (im Prinzip) mitzählen: jedesmal bei Erreichen des Feldstärkemaximums werden einige Atome mehr ionisiert. Indem der Zeitabstand zwischen UV-Laser und Rotlicht-Laser verändert wird, kann der Zeitverlauf des Vorgangs (statistisch) untersucht werden (Krausz et al.).

(c) In einem gut justierten HOM-Experiment mit Photonenzwillingen zeigt eine Koinzidenzapparatur (im Idealfall), dass beide Photonen zufallsgesteuert immer an einem der beiden Austrittskanäle erscheinen (keine Koinzidenzen: Antikoinzidenzen). Stellt man ein λ/4-Plättchen in den einen Zweig des Interferometers, "geraten die beiden Photonen außer Takt" und sie erscheinen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in beiden Austrittskanälen getrennt. Die alte Situation lässt sich wieder herstellen, wenn man den Pfad mit dem λ/4-Plättchen um eine bestimmte Strecke Δs verlängert. Das λ/4-Plättchen wirkt als Potenzialbarriere. Klassisch denkend könnte man vermuten, dass es schneller durchtunnelt wird als eine gleich lange Strecke im Vakuum, dass in ihm das Photon eine größere Geschwindigkeit als Vakuumlichtgeschwindigkeit hat. Wiederum: Eine solche klassische Interpretation ist nicht zulässig, da während des "Tunnelns" der Photonenzwilling noch nicht in zwei individuelle Photonen aufgespalten ist.

(d) Ein eher klassisch aufzufassendes Experiment mit Mikrowellen stammt von Nimtz (1993). Es hat sehr viel Furore gemacht, weil dabei die 40. Sinfonie von Mozart mit 4,7-facher Überlichtgeschwindigkeit über eine Distanz von ca. 11 cm übertragen worden sein soll, im Gegensatz zur Aussage der Relativitätstheorie. Nimtz definiert seine Tunnelzeit über das Maximum des Pulses bzw. über die Anstiegsflanke. Bei diesen Daten sollte eine "Tunnelverzögerung" von ca. 8·10-8 s stattfinden, die bei einer Schallfrequenz von 1000 Hz mit der Periodendauer 10-3 s zu vergleichen ist! Bei der Interpretation der Ergebnisse werden auch "pulse reshaping" und "avanciertes Maximum" diskutiert.

3. Externe Links

en.wikipedia.org/wiki/Günter_Nimtz

theorie.gsi.de/~vanhees/faq/nimtz/nimtz.html

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( August 2014 )